Trauma-Losungen
und Auflösung von traumatischen Erlebnissen

Dr. Diane Poole Heller
Dr. Laurence Heller

 

James

James fuhr mit fast 100 Stundenkilometern, als er die Kontrolle über seinen MG verlor. Während der Wagen mehrmals gegen die Leitplanke auf dem Mittelstreifen prallte, wurde er im Inneren hin und her geworfen. Als der MG schließslich zum Stehen kam, war James in der Lage, auszusteigen und wegzugehen. Die herbeigeeilten Rettungshelfer stellten außer Prellungen und Zerrungen keine Verletzungen fest. Seinem Chef und seinen Kollegen gegenüber erwähnte er den Unfall gar nicht.

Erst Wochen später merkte James, daß er nicht mehr so gut schlief wie vor dem Un fall. Er fühlte sich ständig gereizt, und wenn er in die Nähe des Unfallorts kam, bekam er es mit der Angst zu tun. Doch erst nachdem er mit Larry über das Problem gesprochen hatte, wurde ihm klar, daß seine Symptome möglicherweise durch den Unfall entstanden waren.

Verzögerte Reaktionen auf Unfälle sind ebenso normal wie die Angst, die James in der Nähe des Unfallorts überfiel. In späteren Kapiteln erfahren Sie Genaueres über die Fähigkeit Ihres Unbewußten, im Moment des Unfalls Details der Umgebung aufzunehmen, die der an dem Unfall Beteiligte später oft mit der realen Unfallgefahr assoziiert, so unklar ihm dieser Zusammenhang auch sein mag. Dies erklärt, weshalb Menschen nach einem Un fall, der sich ereignete, als Schnee fiel, später oft ganz plötzlich eine irrationale Angst vor Schnee haben. Sie können auch plötzlich Angst vor Autos bekommen, weIche die gleiche Farbe wie das an Ihrem Unfall beteiligte haben. Auch der Stadtteil, in dem sich der Unfall ereignete, kann mit einer soIchen Angst verknüpft werden. Oder Sie werden extrem wütend, wenn sich Ihnen ein Auto zu schnell aus einer bestimmten Richtung nähert. SoIche Trigger (Auslöser) entstehen häufig, wenn die betreffenden Details mit dem Unfalltrauma assoziiert wurden.

Warum durch Autounfälle entstandene Traumata behandelt werden müssen

Autos spiel en im Leben der meisten Menschen eine wichtige Rolle. Die Notwendigkeit, nach einem Unfall weiter zu fahren, löst das ursprüngliche Trauma oft erneut aus. Für Ihre eigene und die Sicherheit aller, die mit Ihnen zusammen auf der Straße fahren, ist es wichtig, daß Sie durch Autounfälle verursachte Traumata auflösen. Beispielsweise schauen manche Autofahrer, die einen Auffahrunfall hatten, nach einem solchen Erlebnis . fast permanent in den Rückspiegel. Weil sie so große Angst davor haben, erneut von hinten angefahren zu werden, werden sie für sich selbst und andere Verkehrsteilnehmer zu einer großen Gefahr. Eine meiner Klientinnen hatte nach einem solchen Auffahrunfall tatsächlich noch einen zweiten Unfall: Weil sie so konzentriert die hinter ihr fahrenden Wagen beobachtete, fuhr sie auf ein vor ihr fahrendes Auto auf.

Es ist nicht alles nur in Ihrem Kopf!

Wir leben in einer »Schwamm-driiber«-Kultur. Vielleicht haben Ihre Freunde, Familienangehörigen oder Arbeitskollegen Ihnen empfohlen, normal weiterzuleben und den Unfall möglichst schnell zu vergessen. Oder Sie tun aus eigenem Antrieb so, als sei alles in bester Ordnung, weil Sie es für nicht normal halten, daß Sie Wochen oder Monadaßte nach dem Unfall noch so stark darunter leiden. Ich versichere Ihnen hiermit, daß Ihre Reaktionen völlig normal sind. Mag sein, daß Sie sich ein wenig durcheinander fühlen, und vielleicht haben Sie sogar merkwürdige Schmerzen, aber verrückt sind Sie nicht.

Traumata sind real. Sie können entstehen, wenn die natürliche Reaktion des Körpers auf Bedrohungen unterbrochen wird oder nicht vollständig zum Abschluiß gelangt und wenn die auftretenden Gefühle so stark sind, daB der Betroffene nicht in der Lage ist, damit fertig zu werden. Wenn Sie also unmittelbar nach einem Unfall oder auch noch Monate später Traumasymptome haben, war es Ihrem Körper nicht möglich, den von der Natur vorgesehenen Verarbeitungszyklus zum Abschluß zu bringen. Sie befinden sich deshalb immer noch im Überlebensmodus. Ein Grund für das Auftreten Ihrer Symptome ist, daß der natürliche Heilungsprozeß unterbrochen wurde.

In Augenblicken der Gefahr mobilisiert die Natur alle Kampf und Flucht unterstutzende Energie. Wird diese Energie nicht vollständig im Rahmen der Anstrengungen abgebaut, die der Überwindung der Gefahr dienen, dann kann sich die Restenergie in Ihrem Körper festsetzen und in Form von Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder Atembeschwerden manifestieren. In anderen Fallen tritt sie als emotionale Belastung in Erscheinung, und zwar in Form von Wut, Angst oder einer Phobie. Gelegentlich wird auch Ihre Fähigkeit, klar zu denken, durch diese Restenergie beeinträchtigt, was Konzentrationsschwierigkeiten oder Gedächtnisprobleme zur Folge haben kann.

Zeigen Sie dieses Buch den medizinischen und psychologischen Betreuern, bei denen Sie in Behandlung sind, denn wenn sie bei ihrer Arbeit berücksichtigen, wie Traumata die Funktion des autonomen Nervensystems beeinträchtigen, werden sie Ihren Genesungsprozeiß optimal unterstützen können.

Was macht diesen Ansatz so einzigartig?

Um von den durch das Trauma entstandenen Problemen befreit zu werden, brauchen Sie nicht Ihr ganzes wei teres Leben lang in psychotherapeutischer Behandlung zu bleiben. Viele unserer Klienten werden in acht bis fünfzehn Sitzungen mit den Nachwirkungen eines Unfalltraumas fertig. Andere brauchen mehr Zeit. Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich Ihnen helfen will, Ihr Unfalltrauma so schnell und schmerzlos wie möglich zu überwinden.

Sie brauchen nicht monatelang Kindheitserinnerungen zu reaktivieren, wie es in einigen Therapien üblich ist, sonclern können direkt an Ihren augenblicklichen Symptomen arbeiten und an dem, was während des Unfalls geschehen ist. Wir bezeichnen dies als ereignisspezifische Behandlung. Wenn Sie zu Hause und in clem von Ihnen selbst gewählten Tempo arbeiten, werden Sie schon nach einigen einfachen Übungen eine Linclerung Ihrer Symptome erfahren. Manchmal ist es hilfreich, bei dieser Arbeit einen verstandnisvollen Partner oder Freund zur Seite zu haben.

Somatic Experiencing und mein eigener Resiliency-Ansatz befassen sich mit dem biologischen Aspekt des Traumas und vor allem mit dem Nervensystem. Somatic Experiencing erklärt, was in Ihrem Körper vor sich geht, und hilft Ihnen zu verstehen, daß und weshalb Ihre Reaktionen völlig normal und natQrlich sind. Die hier beschriebene Technik befaßt sich sowohl mit Emotionen als auch mit Kognitionen. Hauptsächlich jedoch geht es darum, Ihr Nervensystem wieder in einen normalen Zustand zu versetzen und ein Gefühl der Sicherheit und des Wohlbehagens wiederherzustellen. Indem Sie die beschriebenen Übungen machen, können Sie sogar eine völlig neue, positive und anregende Sicht des Lebens entwikkeln. Nachdem ihr Trauma aufgelöst wurde, haben viele Klienten das Gefühl, daß ihr Leben auf eine Weise transformiert wurde, die sich auf jeden Bereich auswirken kann. Außerdem berichten sie oft, sie seien jetzt bessere, sicherere und fähigere Autofahrer als vor dem Unfall.

Warum Sie anderen Menschen nicht erzählen sollten, was geschehen ist

Die meisten Methoden zur Behandlung von Unfallfolgen beinhalten, daß Sie aufgefordert werden, Ihre Geschichte immer und immer wieder von Anfang bis Ende zu erzählen. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, daß sich Probleme dadurch lösen lassen, daß man immer wieder über sie redet. Somatic Experiencing funktioniert anders. Wenn Sie Ihre Geschichte erzählen, hört auch Ihr Körper zu und reagiert deshalb immer wieder auf die Empfindung der unmittelbaren Gefahr. Ständiges Wiederholen der Unfallgeschichte kann das bereits bestehende Trauma noch verstärken, wodurch das Nervensystem erneut überaktiviert wird. In diesem überaktivierten Zustand haben Sie das Gefühl, von Stimuli überfiutet, ja geradezu überwältigt zu werden. Möglicherweise sind Sie dann nicht mehr in der Lage, sich zu konzentrieren oder an Dinge zu erinnern. Bei zu starker Stimulation kann sogar eine Dissoziation eintreten, eine besonders krasse Form des »Abschaltens«.

Wir möchten Ihnen helfen, in Kontakt mit körperlichen und emotionalen Ressourcen zu kommen, weil dadurch Ihr Gefühl gestärkt wird, der Situation gewachsen zu sein. Sie werden lernen, die ungenutzten Ressourcen Ihres Körpers zu erkennen und zu nutzen, urn zu einem Gefühl des Wohlbehagens zurückzugelangen. Die Suche nach Ihren persönlichen Ressourcen kann eine sehr spannende und beglückende Erfahrung sein. Wenn wir unter körperlichem Schmerz leiden, verlieren wir meist den Kontakt zu den Bereichen unseres Körpers, die nach wie vor angenehme Empfindungen erzeugen. Klienten, die seit einem Unfall unter chronischem Schmerz leiden, sind oft überrascht, wenn sie merken, daß es in ihrem Körper Bereiche gibt, die sich immer noch normal anfühlen.

Um zur Heilung zu gelangen, müssen wir lernen, mit unserem Schmerz, unseren Symptomen und unseren natürlichen Ressourcen zu arbeiten. Auf welche Weise man Ressourcen nutzen kann, wird in Kapitel 6 erläutert. Generell hilft die Nutzung von Ressourcen Ihrem Körper, sich zu entspannen, erhöhte Aktivierungszustände des Nervensystems aufzulösen und aktivierte, aber nicht verbrauchte Energie abzubauen. All dies ermöglicht Ihnen letztendlich, den Überlebensmodus zu verlassen. Sobald der hohe Aktivierungsgrad Ihres Nervensystems abgeklungen und die überschussige Energie neutralisiert ist, können Sie beginnen, Ihren Unfall durchzuarbeiten - allerdings nicht sequentiell. Erzählen Sie die Geschichte nicht in der Reihenfolge des Geschehens, weil dann die Gefahr besteht, daß Sie das Trauma in Ihrem Körper so reaktivieren, wie es sich in der Unfallsituation abgespielt hat.

David

Einer von Dianes Klienten, David Rippe, hat darum gebeten, in diesem Buch seinen richtigen Namen zu erwähnen und seine Geschichte unverschlüsselt zu schildern. Er war mehrere Monate lang in Behandlung, weil er nach einem Autounfall unter unerträglicher Migräne litt. Durch die Therapie gelang es schließlich, seine Kopfschmerzen auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.

Dann hielt er trotz Dianes ausdrücklicher Warnung einen Vortrag, in dem er den genauen Verlauf seines Unfalls schilderte. Das löste einen schweren Migräneanfall aus und führte zu einem schweren Rückfall in seiner Behandlung. Über Davids erstaunliche Genesung werden Sie in späteren Kapiteln mehr erfahren.

Statt Ihre Unfallgeschichte in chronologischer Folge zu erzählen, sollten Sie mit Ihren Erinnerungen an die Zeit unmittelbar nach dem Unfall beginnen und sich vor allem auf den Zeitpunkt konzentrieren, als Sie sich zum ersten Mal wieder sieher fühlten. Fortfahren können Sie mit der Schilderung der Erinnerungen an die Situation unmittelbar vor dem Unfall, in der Sie merkten, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Mit dem Augenblick des Zusammenstoßes, der schwierigsten Situation, sollten Sie sieh erst am Ende der Behandlung beschäftigen. Mit Hilfe von Übungen lernen Sie, zwischen Ihren »geladenen« Erfahrungen mit dem Unfall und der entspannenden Wirkung Ihrer Ressourcen hin- und herzuwechseln. Dadurch wird der Abbau der in Ihrem Nervensystem aufgestauten Energie und damit auch die Entspannung gefördert.

Oberleben ist Erfolg

Eine der offensichtlichsten Ressourcen, auf die Sie im Augenblick zurückgreifen können, ist die Tatsache, daß, Sie überlebt haben. Ihrem Körper ist es gleichgültig, wie Sie der Gefahr entronnen sind - ob Ihnen das nur ungeschickt oder mit großer Raffinesse gelungen ist. Wichtig ist ihm einzig und allein, daß, Sie überlebt haben. Biologisches Überleben ist Erfolg. Was immer Sie getan haben mögen, es hat seinen Zweck erfüllt. Nun, nachdem Sie überlebt haben, haben Sie die Möglichkeit, die Verletzungen oder Symptome durchzuarbeiten, die von jener Erfahrung zurückgeblieben sind. Wenn Menschen nach einem Unfall im Überlebensmodus verharren, fällt es ihnen oft schwer, sieh völlig davon zu überzeugen, daß sie nun in Sicherheit sind. Sie sind ganz auf das Ziel des Überlebens fixiert und merken gar nieht, daß sie es bereits erreicht haben. Ein Teil von Ihnen ist noch in dem Ereignis gefangen, und genau das ist einer der Gründe für Ihre Erwartung, daß es erneut passieren wird.

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